Geschenktes Leben

Eben war ich spazieren. Eigentlich gar nicht berichtenswert. Nach einem Tag des Putzens und Waschens sackte ich im Sofa zusammen. Bekam dann aber den Budenkoller. Raus! Frischluft! Eh es dunkel wird! Gesagt, getan. Winterjacke, Schal, Mütze, Stiefel – und los. Ich wohne ja in Coburg, direkt am Festungsberg. Bis zur Veste hinauf habe ich nur drei Minuten zu Fuß. Also ist das meine bevorzugte Richtung. Rauf auf den Festungsberg, eine oder zwei Runden um die Veste und wieder runter. So auch heute.
Aber irgendwie war es heute anders.
Alles ist verschneit. Ich mag Schnee nicht sonderlich, normalerweise, konnte mich heute aber diesem Zauber einfach nicht entziehen.
Und irgendwie war auf einmal die Zeit ausgeschaltet. Ein Blick auf die Uhr verrät, dass ich anderthalb Stunden unterwegs war – meinem Gefühl nach könnten es auch eine Viertelstunde oder drei Stunden gewesen sein.
Schwer zu beschreiben.
Da war dieser Apfelbaum. Ich weiß, dass es ein Apfelbaum ist, weil ich den Weg auch im Sommer oft gegangen bin. Auf dem Festungsberg. Ich sehe den Baum. Bleibe stehen. Im Frühling hat er weiße Blüten, eine ganze Wolke davon – und heute sah es auch aus, als ob er blüht. Schneeblüten. Ich war wie verzaubert von diesem Anblick. Stand einfach da, schaute, vergaß alles um mich herum, war ein Teil der Landschaft, irgendwie eins mit dem Baum und dem Boden unter mir und dem Himmel über mir. Es fing an dunkel zu werden, es war mir egal. Normalerweise bin ich verfroren – ich stand da und fror überhaupt nicht. Wie lange? Normalerweise braucht man für den Weg den ich heute gegangen bin vielleicht eine halbe Stunde, höchstens. Wie gesagt, ich war anderthalb Stunden unterwegs!
Stand ich wirklich eine volle Stunde bei diesem Baum? Ich weiß es nicht.
Irgendwann ging ich weiter. Und sehe auf einmal wirklich jedes noch so winzige Detail um mich herum.
Die Schneeflocken auf den Zweigen.
Die Weite der Landschaft, wenn man vom Festungsberg hinunter schaut.
Die Wassertropfen in dem Fell des Hundes, der mir mit seinem Frauchen entgegen kam.
Die langen Eiszapfen an der Festungsmauer.
Ich hörte das Knirschen des Schnees unter meinen Füßen.
Blieb dann noch einmal lange stehen – die Zweige eines Busches wölben sich wie ein Tunnel über dem Weg und auf jedem noch so dünnen Zweig lag Schnee. Blühender Apfelbaum, blühender Busch. Durch die Zweige der Abendhimmel. Und der Mond.
Warum sehen wir so etwas normalerweise nicht?
Beim Weitergehen auf einmal Dankbarkeit für dieses Leben, das mir geschenkt wurde. Schlicht und einfach Dankbarkeit für das Da-Sein.
Eigentlich braucht es überhaupt nicht mehr als das.
Und ich bin froh, dass ich das Handy nicht dabei hatte. Sonst hätte ich fotografiert.

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