In der Antiphon (Leitvers) zum 18. Dezember, dem 2. Tag der Weihnachtsoktav, steht die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel im Mittelpunkt. Genauer gesagt das biblische Ereignis schlechthin, das dem Volk Israel seine Identität gab und es, glauben wir den Zeugnissen des Ersten Testaments, überhaupt erst zu einem Volk machte. Nämlich die Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei.
Die Antiphon im Wortlaut:
O Adonai
O Herr und Führer des Hauses Israel, Du bist dem Moses in den Flammen des brennenden Dornbusches erschienen und hast ihm auf dem Sinai das Gesetz gegeben. Komm, strecke Deinen Arm aus, uns zu erlösen.
Eine poetischere Übertragung stammt von meinem Facebookfreund Reinmar Wipper:
O Herr in Vielfalt,
Als Herzog voran dem Volke Israel,
Dem Mose erschienen im Feuer des flammenden Brombeer,
Von dir das Gesetz auf dem Berg überantwortet: Komm!
Breit deinen Flügel, uns Heimstatt zu geben bei dir!
Lateinisch:
O Adonai
Et Dux domus Israel,
Qui Moysi in igne flammae rubi apparuisti,
Et ei in Sina legem dedisti:
Veni ad redimendum nos in bracchio extento.
Adonai ist das hebräische Wort für „Herr“. Wenn man die Bibel auf deutsch liest, etwa die Übersetzung von Martin Luther, dann stößt man oft auf das Wort HERR in Großbuchstaben. Es steht überall dort, wo im hebräischen Original das Wort Jahwe bzw. JHWH auftaucht. JHWH ist der hebräische Gottesname. Dieser galt als so heilig, dass man ihn beim Lesen nicht aussprach und stattdessen Adonai sagte, was soviel bedeutet wie „Herr“.
Gemeint ist mit Adonai der Gott, der dem Mose im brennenden Dornbusch erschien, ihm seinen Namen offenbarte und den Auftrag gab, das Volk aus der Sklaverei zu führen. Der Name Gottes, JHWH, ist rätselhaft, eigentlich ist es gar kein Name. Er ist abgeleitet aus dem hebräischen Wort für „sein“. Entsprechend vielfältig sind die Übertragungsversuche für den Gottesnamen:
„Ich bin der ich bin.“ – „Ich werde sein, der ich sein werde.“ – „Ich bin der Seiende.“ – „Ich bin der ich bin da.“ Letztlich stimmt es aber alles nicht ganz. Was bedeutet: Gott lässt sich nicht dingfest machen.
Gott als „Führer des Hauses Israel“ ging dann seinem Volk voran, sichtbar unsichtbar, bei Tag in einer Wolke, nachts in einer Feuersäule. Im neuen Testament wird beides allegorisch gedeutet: Jesus selbst war schon, gewissermaßen präexistent, gegenwärtig, als JHWH sein Volk aus der Sklaverei befreite.
„Du hast ihm (Mose) auf dem Sinai das Gesetz gegeben“: Befreiung oder Freiheit ohne Regeln, die z.B. die Schwachen schützen, endet in Anarchie und Chaos. Daher empfängt Mose auf dem Berg Sinai von Gott das „Gesetz“, gemeint sind vor allem die 10 Gebote.
„Komm, strecke deinen Arm aus, uns zu erlösen!“ spielt an auf die Formulierung: „Er führte sie mit starker Hand und ausgestrecktem Arm“, und zwar aus der Sklaverei in die Freiheit. Eine Formulierung, die sich vor allem im Buch Exodus häufig findet.
Wenn Christen mit diesen Worten beten, an denen sich sozusagen die Heilsgeschichte des Ersten Testaments kristallisiert, nämlich die Befreiung aus der Sklaverei, dann in dem Wissen, dass es eben auch heute noch die unterschiedlichsten Formen von Sklaverei und Abhängigkeit gibt. Ganz real, aber auch im übertragenen Sinne.
Was das mit Weihnachten zu tun hat: Derselbe Gott, der einen Haufen hebräischer Sklaven machtvoll aus der Knechtschaft befreite, ist in Jesus „einer von uns“ geworden. Das eine wie das andere stellt die herrschenden Verhältnisse auf den Kopf und ist eine Provokation an alles und alle, die meinen, man könnte Menschen kleinhalten und unterdrücken, ohne dass es Gott interessiert.
An die Antiphone schließt sich jeweils das Magnificat an, der Lobgesang der Maria, in dem es unter anderem heißt: „Er (Gott) stößt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen“. Weihnachten hat einen umstürzlerischen Charakter, der vom kuscheligen Familienfest, als das es meistens gefeiert wird, absolut nichts hat.