In dem Maße in dem ich Gott als den großen Liebenden erleben durfte, lernte ich IHN nach und nach noch von einer anderen Seite kennen. Als den Mitleidenden.
Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem landläufigen Gebrauch des Worte Mitleid und einem echten Mitleiden.
Mitleid im herkömmlichen Sinne drückt neben einer emotionalen Betroffenheit auch immer ein Gefälle aus. Wir haben Mitleid mit den armen Kindern in Afrika und überweisen eine Spende. Dabei danken wir unserem Schicksal, dass wir nicht selbst betroffen sind.
Ein echtes Mitleiden hingegen bedeutet, sich mit dem Leidenden zu identifizieren. Es ist wohl das Alleinstellungsmerkmal des christlichen Glaubens gegenüber allen anderen Religionen, dass Gott Mensch wird in Jesus Christus. Wahrer Gott und wahrer Mensch. Und dass Gott sich in Jesus an die Seite aller begibt, die Schweres zu ertragen haben, die Schmerzen erdulden, die von anderen ausgegrenzt oder misshandelt werden.
Jesus, der Gottessohn, die personifizierte Liebe, das Mensch gewordene Wort Gottes, stirbt aus Liebe zu seinen Menschen am Kreuz. Er tat das einmal vor 2000 Jahren.
Er tut das aber auch immer noch, bis ans Ende der Welt, in jedem Menschen der leidet. Er erträgt die Hungerqualen des sterbenden Kindes genauso wie die Trauer eines Menschen, der seine Lieben bei einem Unfall verloren hat. Er wird dort geschändet, wo ein Kind sexuell missbraucht wird und erleidet die Verachtung, die ein Opfer von Verleumdung oder Mobbing ertragen muss. Er leidet in allen Leidenden, und jeder Leidende ist, ob er es weiß oder nicht, auch ein Abbild des geschundenen Jesus am Kreuz. Das ist meine feste Überzeugung und ich habe es in der Seelsorge auch wirklich so erlebt.
Ich habe Jesus in mir als überwältigende Gegenwart, Liebe und Licht erfahren. Davon habe ich schon geschrieben. Aber nie war mir seine Präsenz so tröstlich und so stark, wie in den Jahren, in denen ich nach langer Zeit endlich die tiefen seelischen Verletzungen aus meiner Kindheit anschauen konnte.
Mein wichtigster Seelsorger in diesen Jahren war Tilmann Haberer und ich bin heute, über 25 Jahre später, wirklich froh, dass aus der damaligen Seelsorgebeziehung eine enge Freundschaft werden konnte. Das ist nicht selbstverständlich.
Ich durfte erleben, dass ich bedingungslos angenommen bin, und Tilmann war und ist einer der wirklich begnadeten Seelsorger, die auf Gott hin transparent werden, vermutlich ohne das selbst zu wissen.
Die Theologie vom mitleidenden Gott ist mir zum ersten Mal bei Tilmann in der Seelsorge begegnet, aber sie war mir von Anfang an total vertraut.
In dieser Zeit lernte ich auch, über Andreas Ebert und die von ihm angebotenen Exerzitien im Alltag, das Jesusgebet kennen. Das war eine wirklich glückliche Fügung. Denn das Verarbeiten und Heilen lassen seelischer Wunden und das kontemplative Jesusgebet ergänzen einander absolut ideal.
Heilung innerer Verletzungen geschieht dort, wo ich anfange, loszulassen. Zu vergeben. Das, was war, Gott hinzuhalten und darauf zu vertrauen, dass ER in mir wirkt. In der Seelsorge wagte ich einen liebevollen Blick auf das verletzt Kind, das ich einst war. Im Gebet vertraute ich das Kind in mir Gott an.
Einmal träumte ich von meinem verletzten inneren Kind. Ich träumte, ich gehe durch einen Wald. Am Fuße eines Baums liegt ein schwer verwundetes kleines Mädchen. Es ist rückwärts in einen spitzen Ast gefallen, der Ast durchbohrt das Kind und ragt vorne aus dem Brustkorb. Entsetzt und voller Mitleid beuge ich mich über das Kind und lege die Hand dorthin, wo ich das Herz vermute. Zu meiner großen Erleichterung schlägt das Herz trotz allem kräftig und gleichmäßig. Das Kind ist verwundet, aber nicht tot; man kann es noch retten.
Und ich durfte in diesen Jahren erleben, wie das Kind heil wurde.
Danke für diesen Beitrag! Du bringst damit eine der großen Stärken des Glaubens an Jesus Christus auf den Punkt.
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