Als ich anfing, in der Seelsorge auf meine alten Verletzungen zu schauen, lernte ich auch das Jesusgebet kennen. Es bereichert in seiner Schlichtheit und Tiefe mein Leben bis heute. Alle Religionen kennen das beten mit Mantras, seien es die 99 Namen Allahs im Islam, das Chanten heiliger Namen und Silben im Hinduismus oder das Rosenkranzgebet der katholischen Kirche. Es geht immer darum, ein Mantra so tief zu verinnerlichen, dass es Teil des eigenen Herzens wird.
Das Jesusgebet ist, grob gesagt, auch ein mantrisches Gebet. Es stammt aus der orthodoxen Kirche. Hier in Deutschland ist es vor allem der Jesuit Franz Jalics, der es bekannt gemacht und weiterentwickelt hat.
Im Kern besteht das Jesusgebet in der schlichten Wiederholung des Namens Jesus Christus, verbunden mit dem eigenen Atem.
Ausatmen: Jesus. Einatmen: Christus.
Mehr ist es eigentlich gar nicht, doch in diesem einen Namen liegt eine solche Kraft und Fülle, dass es auch keine weiteren Worte beim Beten braucht.
Es ist mehr ein inneres Lauschen, ein behutsames Wahrnehmen, wie dieser Name in mir klingt, was er zum Schwingen bringt. Eher ein Geschehenlassen, als ein Machen.
Nach biblischer Überzeugung sind Namen nicht einfach Schall und Rauch, sondern aufs Engste mit der Person verbunden, die den Namen trägt. In gewisser Weise IST der Name die Person.
Im Alten Testament fragt Mose Gott nach seinem Namen. ER antwortet mit dem rätselhaften Satz, der heute meist als ICH BIN DA übersetzt wird. Der aber auch bedeutet: Ich bin der ich bin, ich bin der ICH BIN, oder auch Ich werde sein, der ich sein werde. Einerseits der, der immer da ist. Aber auch der gänzlich Unverfügbare. Das Geheimnis hinter allem. Immer im Fluss und doch auch immer derselbe.
Im Neuen Testament sagt Jesus von sich: ICH BIN. Und: Ich und der Vater sind EINS. Wer Jesus sieht, sieht Gott. Wer den Namen Jesu anruft, der ruft den Namen Gottes an. Der Name Jesu ist „der Name über allen Namen“. In seinem Namen ist ER in seiner ganzen Person präsent. Alles was Er war und ist, das ganze Evangelium, alles, was er getan und gesagt hat und er selbst, als der Lebendige, Gekreuzigte und Auferstandene.
Wer das begreift, für den ist klar, dass das Gebet, das unablässig nur den Namen Jesu wiederholt, keineswegs nur ein hirnloses Geleiere sein kann. Der Name Jesu führt den, der ihn innerlich betet, in die Gegenwart Gottes. Damit ist klar, dass diese Art der Meditation auf höchste Präsenz und Geistesgegenwart abzielt. Es ist schlicht unhöflich, den Namen Jesu einfach herunterzuleiern.
Damit ist das Jesusgebet in all seiner Schlichtheit doch auch eine Übung, das innere Disziplin voraussetzt. Die Bereitschaft, sich hinzusetzen, die Zeit, der Meditation Gott zu schenken, egal wie leicht oder schwer es einem heute gerade fällt.
Aussichtslos vor Gott da zu sein. IHN wirken zu lassen. Sich von ihm lieben zu lassen. Das ist ein Wagnis, weil keiner weiß, was in den kommenden 30 Minuten der Meditation passiert. Vielleicht verpasse ich ja etwas. Oder bekomme Rückenschmerzen vom Sitzen. Oder Durst. Oder mir wird langweilig. Oder mir schießen 1000 zu erledigende Dinge durch den Kopf, die dann erst mal liegen bleiben. Oder mir schlafen die Füße ein. Oder ich verpasse die Liebe meines Lebens, die genau in diesem Moment genau dort auf mich warten würde, wo ich eigentlich jetzt gerade wäre, würde ich nicht meditieren.
Kurz, es gibt viel, was geschehen kann.
Es kann auch passieren, und das geschieht oft, dass unbewältigte Probleme, Traumata oder innere Verletzungen sich melden. Trauer, Schmerz, Angst, Wut. Bin ich bereit, sie mir anzuschauen und mich von Gott anschauen zu lassen?
Das Jesusgebet ist keine oberflächliche Erbauungsübung, es geht tief. Im Namen Jesu ist auch ER als der Heilende und der selbst zutiefst verwundete Heiland gegenwärtig. Deshalb ist es gut, jemanden zu haben, mit dem man danach reden kann.
Ich persönlich glaube, dass 30 Minuten Jesusgebet viele Stunden Psychotherapie nach sich ziehen können, weil die Begegnung mit dem Licht eben auch die dunklen Stellen zutage bringt.
Ich begann stockend, den Namen Jesu zu meditieren. Oft war das sehr zäh, ich war mit den Gedanken ganz woanders, aber ich blieb dran.
Wir haben in der Gruppe viel gelacht. Vor allem, wenn jeder erzählte, wohin seine Gedanken wieder abgeschweift sind. („Wie ging es dir heute mit dem Jesusgebet, lieber Kurt?“ – „Danke, gut. Ich weiß jetzt die Menüfolge für mein Geburtstagsessen und habe nebenbei noch im Kopf die Einkaufsliste erstellt.“ – „Und du, liebe Christiane, wie ging es dir?“ – „Blendend. Es war eine prima Gelegenheit, einmal 30 Minuten lang eine Fliege zu beobachten.“ – „Ja, dieses blöde Vieh hat mich auch total abgelenkt.“)
Es gab aber auch viele Tränen.
Eins meiner tiefsten Erlebnisse mit dem Jesusgebet war folgendes: Ich sitze, mäßig gelangweilt, auf meinem Meditationshocker. Plötzlich reißt es mich innerlich. SEIN Blick trifft mich voll. Ich fühle mich bis auf den Grund meiner Seele durchschaut. Alles liegt offen da. Es geht mir durch und durch. Und wie bei einem Blitz wird auch alles um mich herum auf einmal wie durchsichtig. Alles, was ich Realität nenne, ist nur wie eine Nebelschwade vor der Ewigkeit. So muss Sterben sein, dachte ich später.
Es dauerte nur eine Zehntelsekunde, als ob ein Vorhang kurz aufgeht und sich gleich wieder schließt.
Später las ich einmal sinngemäß bei Richard Rohr: „Du willst beten? Dann mach dich auf etwa gefasst. Gott ist nicht lieb. Gott ist kein Onkel. Gott ist ein Erdbeben!“