Denkende Mystik

Im Theologiestudium spielt das Thema Mystik keine Rolle, ebensowenig wie allgemein ein Nachdenken über Spiritualität. Jedenfalls war das in den 90er Jahren so. Eigentlich machte mir das wenig aus, denn auch die wissenschaftliche Herangehensweise an theologische Fragestellungen interessierte mich sehr, und für die spirituelle „Praxis“ hatte ich ja die Thomasmesse, das Taizegebet und später die Evangelische Studentengemeinde. So studierte ich recht erfolgreich evangelische Theologie, auch ohne dass im universitären Betrieb mein Herzensthema Mystik irgendeine Rolle gespielt hätte.

Einmal allerdings wurde ein Seminar angeboten, das mich brennend interessierte. Der Titel war „Denkende Mystik“. Es sollten Texte des berühmten christlichen Mystikers Meister Eckhart diskutiert werden, aber auch eine praktische Einführung in die nichtgegenständliche Meditation war Teil des Kursangebots. Es handelte sich um ein Wochenendseminar auf Schloss Altenburg, wo die evangelische Landeskirche gerade ein spirituelles Zentrum eingerichtet hatte, soviel ich weiß das erste seiner Art in Bayern.

Gespannt wie ein Flitzebogen meldete ich mich zu dem Seminar an. Ich hoffte auf regen offenen Austausch mit anderen Mystikbegeisterten. Allerdings merkte ich sehr schnell, dass ich wohl auf dem für mich falschen Dampfer bin. Denn bei den Teilnehmenden handelte es sich samt und sonders um Leute, die das Thema entweder von einer rein theoretischen und intellektuellen Warte aus interessierte („Ach ja, Mystik, hab ich mal was von gehört, scheint ja ganz interessant zu sein“), oder aber aus einer ganz anderen spirituellen Ecke kamen, nämlich vom Zenbuddhismus her. (Oder dem, was sie dafür hielten.)

Ziel aller Beteiligten außer mir schien es zu sein, überholte (weil von einem personalen Gott ausgehende) Gottesbilder vom Sockel zu stürzen zugunsten einer nicht-persönlichen Transzendenz-Erfahrung.

Es fing eigentlich ganz nett und kreativ an. Wir sollten unsere Gottesbilder malen. Welche Gottesbilder prägen uns, welche Aspekte des Göttlichen sind uns wichtig? Hier gab es zwei Frakionen. Die einen kamen wohl von einer normalkirchlichen religiösen Sozialisation her und malten selbstironisch den berühmten Mann mit Bart und Heiligenschein auf seiner Wolke. Lachend und mit leichtem Sarkasmus erklärten sie, dieses Bild ihres Kinderglaubens hinter sich gelassen zu haben (auch wenn es schön war, dass Oma oder Patin einst am Bett mit ihnen gebetet haben). Dank intensiver Auseinandersetzung mit buddhistischer Spiritualität im Religionswissenschaftlichen Seminar hätten sie sich jetzt zum Glück endlich von jeglichem personalen Gottesbild gelöst. Gott sei ja sowieso nur eine Chiffre.

Einer hatte abstrakte Formen gemalt und meinte selbstkritisch: „Dabei wäre mir fast ein Kreuz passiert….“, worauf die anderen zustimmend und verständnisvoll nickten. Ach ja, es ist schon ein Kreuz mit diesen überholten Gottesbildern.

Ich hatte total im Flow, ohne auf die anderen zu achten, einen Wirbel aus Gelb und Blau gemalt. Wasser, Sturm, Licht, Dynamik und erklärte: „So habe ich Gott erlebt.“

Entgeisterte Blicke und Reaktionen. „Wie, du hast Gott erlebt?“ Ein Student der Religionswissenschaften im höheren Semester hielt gleich einen Vortrag, dass man solche Erfahrungen im Buddhismus als geistige Trugbilder kennt, und zitierte den berühmten Satz: „Begegnest du Buddha unterwegs, dann schlag ihn tot!“. Sprich: Es ist alles Illusion. Trugbild des Geistes.

Was mich traurig machte, ärgerte und nervte war nicht die Diskussion an sich, sondern zum einen die Tatsache, dass die meisten hier redeten, ohne je selber auch nur ansatzweise eine entsprechende transzendente Erfahrung gemacht zu haben. Zum anderen, dass christliche Spiritualität und Gotteserfahrung gleich komplett als überholt abgetan wurden. Das finde ich lieblos. Und drittens der Tenor gelehrsamer Überheblichkeit, der leider aus sehr vielen Äußerungen sprach.

Meister Eckhart wurde als beinahe-Buddhist vereinnahmt, der halt nur zufällig in einer Zeit gelebt hat, in der er sich vom christlichen Gottesbild nur partiell lösen konnte. Und ich wurde mehrmals mitleidig beiseite genommen und man entschuldigte sich bei mir, dass mein wohl pietistischer (sic!) Glaubenshintergrund hier wohl arg in Mitleidenschaft gezogen würde.

Jedenfalls war ich nach Ende des Seminars von mystischen Seelenfrieden sehr weit entfernt.

Erst nach und nach gelang es mir, diese verstörende Erfahrung zu verarbeiten und aufzudröseln, was da eigentlich geschehen war.

Punkt 1: Offenbar hatten einige der Seminarteilnehmer im ihrer Jugend beengende Erfahrungen mit Glaube und Kirche gemacht. Davon wollten sie sich jetzt befreien, indem sie versuchten, jegliche christliche Gottesvorstellung über Bord zu werfen.

Vermutlich hatten mich einige als etwas identifiziert, was ich nie war, von dem man sich aber umso vehementer abgrenzen muss, weil man selbst aus dieser mir zugeschriebenen kirchlichen Ecke stammte. Frei nach dem Motto: Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche.

Punkt 2: Offenbar gehört für viele eine echte mystische Erfahrung untrennbar mit einer nicht-personalen Erfahrung des Absoluten zusammen. Man befürchtet, das Absolute durch den Begriff „Gott“ oder gar durch ein christliches Verständnis von Gott schon wieder einzuschränken.

Dazu passt die leicht missverständliche Aussage bei Meister Eckhart, der Gott Suchende müsste gott-los werden, also seine Vorstellungen von Gott komplett loslassen, um Gott zu finden.

Wer mystische Erfahrungen macht, kommt tatsächlich irgendwann an einen Punkt, bei dem „Gott“ als Gegenüber nicht mehr „da“ ist. Es ist ein Zustand hellwacher Klarheit, in dem alles gleichsam durchsichtig zu werden scheint. Es ist der Moment, in dem alles IST. die absolute Gegenwart. Das „ICH BIN“ Gottes. Gott IST und alles ist in GOTT. In solchen Momenten erlischt das Gegenüber von ICH und GOTT. Es wird alles EINS.

Ich habe solche Momente erlebt. Man könnte wirklich meinen, dass Gott als „Person“ eine Illusion ist, wenn man einmal an diesem Punkt war. Im Zen nennt man es Satori.

Ich persönlich bin der Überzeugung: GOTT ist nicht UN-persönlich (ein namenloses Absolutes), sondern ÜBER-persönlich.

Er ist Jahwe, er ist Christus, er ist die heilige Geistkraft. Aber er ist das nur, solange ich IHM gegenüber bin. Wenn ich IN IHM bin, dann löst sich dieses Gegenüber auf, und ALLES ist ER und ALLES bin ich.

Solche Momente sind selten, wären sie häufig, dann wäre das vermutlich einfach „zu viel“ für mein armes Hirn. Ich vermute, dass es einige große Mystiker und Heilige gibt, bei denen dieser tiefe Zustand der Gottes-Gegenwart durchgängig vorhanden ist.

Mir begegnet Gott in Christus aber meistens „personal“, also als Gegenüber, als Liebender. Und ich bin überzeugt, dass Gott das alles auch ist. Der All-Eine und das Gegenüber und dass es seine Größe gerade ausmacht, dass er unterschiedlichen Menschen auf ganz unterschiedliche Weise begegnet. Dass die eine Erfahrung nicht in irgendeiner Weise „höher“ ist als die andere.

In Gott fallen die Gegensätze zusammen. Er ist persönlich UND überpersönlich, das Absolute UND das Kind in der Krippe.

Überhaupt glauben Christen an die Inkarnation Gottes in Jesus Christus. Mehr persönliche Begegnung Gottes mit den Menschen geht gar nicht.

So hat dieses Seminar über die Denkende Mystik bei mir trotz allem Ärger doch bewirkt, was der Titel sagt: Ich dachte. Mystisch.

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