Im Frühjahr 2001 legte ich, nach zwölf Semestern Theologiestudium, mein erstes theologisches Examen ab und damit endete für mich ein Lebensabschnitt, der mich tief geprägt hatte.
Begonnen hatte er mit meiner Taufe. Die war am 11. Juli 1993. Seit dem war und bin ich bewusst mit Jesus unterwegs und ich hatte Wunder erlebt in diesen Jahren.
Nach einer wirklich sehr schwierigen Kindheit und Jugend in einem dysfunktionalen Familiensystem hatte ich mich, in der Kraft des Glaubens, freigeschwommen. Ich hatte Gott lieben gelernt. Und ich habe sowohl in München, als auch in Erlangen, unglaubliches Glück mit Menschen gehabt. Möglichkeiten zu wirklich offenem und herzlichen Austausch. Gemeinschaft. Gegenseitige Annahme.
Als ich im September 2001 mein Vikariat in Schwaig bei Nürnberg begann, lernte ich dort zum ersten Mal eine „normale“ Kirchengemeinde kennen.
Eigentlich kann ich mich nicht beklagen. Ich hatte einen sehr bemühten und freundlichen Mentor. Ich durfte selbständig arbeiten. Die Menschen waren im großen und Ganzen freundlich.
Aber ich habe mich noch nie in meinem Leben so einsam gefühlt, und das war, leider, auch mein Grundgefühl in all den zwölf Jahren, die auf mein Vikariat im Pfarramt folgen sollten.
Nun möchte ich nicht behaupten, dass es in „volkskirchlichen“ evangelischen Kirchengemeinden generell keine Gemeinschaft gibt. Das Gegenteil ist der Fall, es gibt sehr viel Geselligkeit und Hilfsbereitschaft. Es gibt Feste und Gottesdienste für Menschen aller Altersgruppen. Es gibt Kreativität und ehrenamtliches Engagement. Was es aber leider auch gibt, sind enorm hohe Ansprüche an Pfarrpersonen und gekränkte Eitelkeiten aus nichtigem Anlass.
Vielleicht gibt es Pfarrerinnen und Pfarrer, denen es gelingt, Freundschaften innerhalb von Gemeinden zu schließen. Ich persönlich hatte immer das Gefühl, ich muss sehr auf der Hut sein. Denn die „Freundschaft“ eines Pfarrers, einer Pfarrerin mit den einen wird den anderen leicht zum Anstoß. Nicht wenige erklären stolz, der Pfarrer habe ihnen das Du angeboten- wodurch das Du des Pfarrers zu einer Art Prestigeobjekt wird. Warum bietet er es dem an und nicht mir?
Ich habe Kirchengemeinden oft wie ein Minenfeld erlebt. Wenn ich nicht bei jedem Tritt wahnsinnig aufpasse, dann fliegt mir irgendetwas um die Ohren. Wenn ich nicht unter allen Umständen jeden und jede freundlich grüße, erfahre ich im Nachhinein um acht Ecken, dass Frau Meier gekränkt ist, weil ich sie übersehen habe.
Es gibt so unglaublich viele Bedürfnisse, die auf Pfarrpersonen projiziert werden. Dahinter stecken oft wirkliche innere Anliegen. Aber die Art der Kommunikation macht Mühe.
Nach all der Offenheit und Vertrautheit die ich in den Jahren davor erlebt hatte, war das Ankommen im „normalen“ kirchengemeindlichen Alltag für mich wie eine Bruchlandung. Ich hatte zum ersten Mal seit ich angefangen habe zu glauben das Gefühl, ich müsste mich permanent verstellen. Schlaflose Nächte, Migräne (damit hatte ich vorher nie zu tun gehabt), alles in mir und an mir signalisierte mir, schon im Vikariat, dass das Gemeindepfarramt nicht das ist, womit ich auf Dauer oder überhaupt glücklich werde.
Es gibt sehr viele begabte Kolleginnen und Kollegen, die hervorragende Arbeit machen und die hier genau richtig sind. Ich gehöre nicht dazu. Ich wusste es, mein Mentor wusste es, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Ich hielt aus zwei Gründen sehr lange, viel zu lange, an meinem eingeschlagenen Weg fest.
Der erste Grund ist der bei weitem schlechtere: Ich habe zwölf Semester Theologie studiert, ich habe ein gutes Examen und das Pfarramt bietet ein gutes Gehalt und nach ein paar Jahren die Verbeamtung. Ich müsste ja blöd sein, wenn ich freiwillig darauf verzichte.
Zu dem zweiten Grund, warum ich Pfarrerin bleiben wollte (und es jetzt wieder werden will) stehe ich bis heute: Ich habe etwas zu geben. Ich kann, auch das war schon im Vikariat klar, so predigen, dass es die Leute wirklich tief berührt. Ich kann Menschen helfen, in die Tiefe zu sehen, auch in ihre eigenen Abgründe, und zum Kern ihrer Person vorzudringen. Ich kann so von Gott erzählen, dass Traurige mutig werden. Ich kann Menschen an den Wendepunkten ihres Lebens begleiten. Ich „kann“ Theologie. Ich bin einen sehr anderen inneren Weg gegangen, als die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen. Ist das nicht auch wichtig und wertvoll?
Es war für mich in all den Jahren ein wirklich tiefer Schmerz, dass alles, worin ich gut bin, im „normalen“ Pfarramt nur eine sehr geringe Rolle spielt. Zwar möchte ich wieder Pfarrerin sein, weil ich all das, was ich gut kann, immer noch teilen möchte. Weil es mich glücklich macht und anderen hilft. Aber ich möchte nicht mehr so Pfarrerin sein, wie in diesen zwölf Jahren.
Zu Beginn meines Vikariates hatte ich einen Traum. Ich träumte, ich halte Gottesdienst und schreite mit Talar den Mittelgang der Kirche entlang. Die Kirche ist leer. Mit jedem Schritt auf den Altar zu wird mein Talar immer weiter und größer, sodass ich mich zunehmend darin verheddere. Ich ertrinke geradezu in Massen von schwarzem Stoff. Schweißgebadet wache ich auf.