Dass mein komplettes Leben sich mit Eintritt ins Vikariat so radikal geändert hatte, setzte mir wirklich zu. Natürlich konnte ich auch „Erfolge“ verbuchen, zum Beispiel kamen die Menschen gern in meine Gottesdienste und ich merkte, dass ich wirklich etwas zu sagen habe. Manches was ich machte, „kam gut an“, wie es hieß. Eine Formulierung, die mich seitdem durch alle Dienstorte begleitet hat und die ich immer noch sehr seltsam finde in Bezug auf geistliche Vollzüge wie Gottesdienste und Beerdigungen. „Kam fei gut an, Ihre Predigt, und singen können Sie auch…“ Manchmal dachte ich: Fehlt nur noch, dass im Gottesdienst Punktekarten hochgehalten werden. Müller – 9 Punkte, einer mehr als beim letzten Mal, oder so ähnlich.
Insgesamt fand ich alles furchtbar zäh. Smalltalk über das Tagesgeschehen lag mir zum Beispiel gar nicht. Von meiner Vorgängerin hatte ich einen Krabbelgottesdienst geerbt – damals überhaupt nicht mein Format. Und dann war ich, neben der volkskirchlichen Kirchengemeinde auch das fränkisch-kleinstädtisch-dörfliche Milieu einfach überhaupt nicht gewöhnt.
Ich kam mir vor, wie gestrandet und manchmal war ich richtig verzweifelt, weil zwar meine Gottesdienste, Beerdigungen, Taufen gut „ankamen“, ich selbst aber nicht. Es war einfach überhaupt nicht meine Welt.
Einmal besuchte ich in den Herbstferien meine Mutter und ging, was ich in München immer oder oft getan hatte, an Allerheiligen in die Messe in St. Michael. Ich mag das Allerheiligenfest schon seit ich es kenne, auch wenn ich evangelisch bin. Mir gefällt dieser Feiertag für die „Communio Sanctorum“, die Gemeinschaft der Heiligen. Ich finde den Gedanken schön, dass „die Heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen“ die Christen aller Epochen und Völker umfasst und dass wir ein Teil von dieser Geschichte Gottes mit seiner Kirche sind. Es gibt mir das Gefühl, in etwas Größeres eingebettet zu sein mit all den kleinen Dingen, die ich in dieser Kirche tue. Ich denke dabei an die Formulierung aus dem Hebräerbrief, dass wir umgeben sind von einer „Wolke der Zeugen“, alle Gläubigen, die dieses Leben schon hinter sich gelassen haben und am Ziel der Reise angekommen sind.
An diesem Allerheiligenfest fühlte ich mich nicht gut, ich hatte mal wieder Kopfschmerzen (wie so oft in diesen Jahren) und war nach dem Gottesdienst ziemlich erschöpft und legte mich hin. Ich fühlte mich richtig elend, haderte mit mir selbst und Gott und sagte an dessen Adresse gewandt, die prächtigen Bilder der Engel und Heiligen in St. Michael vor Augen: „Nun schau dir das an! All diese Menschen, was sie für dich getan haben! Und ich tauge zu gar nichts.“
Da durchschoss mich plötzlich eine überwältigendes Gefühl des bedingungslos Geliebtseins und ich vernahm in mir die (leicht resigniert klingende, hast du es immer noch nicht begriffen?) Antwort: „Zu garnichts, außer zum Liebhaben.“
Ich heulte ungefähr eine Stunde lang Rotz und Wasser, aber es ging mir besser.