Mystik und evangelisches Bekenntnis

Das Ende des Vikariats rückte näher und damit steht bei den meisten Vikarinnen und Vikaren nach einer wirklich ellenlangen Ausbildung (12 Semester Studium, damals noch ein zwischengeschaltetes Praxisjahr, zweieinhalb Jahre Vikariat, macht neuneinhalb Jahre!) die Ordination. Die Ordination beinhaltet den kirchlichen Auftrag zur Verkündigung des Wortes Gottes, Verwaltung der Sakramente und der Beichte und die Verpflichtung zu einer geordneten Lebensführung. Außerdem ist sie Voraussetzung für die Verbeamtung (nach nochmal 3 Jahren Probedienst). Verständlicherweise verlangt die Kirche vor der Ordination eine schriftliche „Erklärung zu Schrift und Bekenntnis“. Die Bibel und die Bekenntnisse der evangelisch-lutherischen Kirche sind die beiden Säulen, auf die hin ein evangelischer Theologe bei der Ordination verpflichtet wird. Eine eigene Positionierung dazu ist wichtig, weil es ja darum geht, ob jemand inhaltlich wirklich hinter seiner Kirche steht, oder nicht.

Auch ich habe eine solche Erklärung verfasst. Auch wenn es bisher den Anschein haben mag, dass ich mit meiner Frömmigkeit doch eine ziemliche Exotin innerhalb der evangelischen Kirche bin, habe ich das ehrlichen Herzens und mit voller Überzeugung getan.

Was ich wörtlich geschrieben habe, weiß ich nicht mehr. Aber sinngemäß schrieb ich, dass die Bibel die Grundlage des Glaubens ist und die Bekenntnisse der Kirche deren dogmatische Auslegung. Die Bekenntnisse (dazu gehören die altkirchlichen Bekenntnisse, aber auch Schriften aus der Reformationszeit) müssen sich inhaltlich an der Bibel messen lassen. In dieser Hinsicht bin ich wirklich eine gute Lutheranerin.

Heute würde ich ergänzen: Neben dem Wort Gottes in der Bibel und den Bekenntnissen der Kirche gibt es noch das, was Gott einem Menschen direkt offenbart. Eine Sicht, die Martin Luther scharf verurteilt hat. Er sprach von den „Träumern und Schwarmgeistern“ und meinte damit die Mystiker seiner Zeit, sowohl Altgläubige, als auch die in den eigenen Reihen.

Ich glaube inzwischen, dass seine scharfe Verurteilung mystischer Phänomene auch damit zusammenhing, dass er um die Einheit im reformatorischen Lager fürchtete und dass er sich zunehmend schärfer von der katholischen Kirche meinte abgrenzen zu müssen. Denn die Klöster waren und sind ein Hort der Mystik, man denke an Hildegard von Bingen, Theresa von Avila, Johannes vom Kreuz, Ignatius von Loyola, in neuerer Zeit Edith Stein, Thomas Merton und wie sie alle heißen.

Theologisch waren es vor allem zwei Dinge, die die Mystik in den reformatorischen Kirchen suspekt machten. Zum einen das Schriftprinzip. Neben der Heiligen Schrift durfte es keine weiteren Quellen der göttlichen Offenbarung geben.

Zum anderen das Menschenbild. Luther und die Reformatoren sehen die Natur desMenschen als völlig verdorben an. Die ehemalige Gottesebenbildlichkeit ist durch die Sünde dahin und deshalb ist der Mensch auch nicht mehr in der Lage, aus eigener Kraft etwas von Gott zu erkennen. Ihm fehlt das Sensorium dafür. Es gibt auch keinen heilen Seelenkern, in dem Gott weiter unerkannt anwesend wäre. Damit ist die mystische Vereinigung eines Gläubigen mit Gott schlicht Anmaßung.

Der Dreh- und Angelpunkt der lutherischen Theologie ist die Lehre von der Rechtfertigung allein aus Gnade. Damit ist der Mensch zwar dann „gerettet“ vor der Hölle, aber trotzdem noch so tief vom ihm geschieden, dass er Gott, außer in der Heiligen Schrift, nicht begegnen kann.

Weil die reformatorischen Kirchen sich um jeden Preis von der römisch-katholischen Kirche abgrenzen mussten, haben wir als evangelische Kirche Jahrhunderte lang den Zugang zur mystischen Begegnung mit Gott verschüttet. Mystische Ansätze haben sich z.B. im Pietismus erhalten, aber dadurch, dass dieser Glaubenszugang nie Teil der offiziellen Lehre war, führte er seit der Reformation ein Schattendasein und stand im Verdacht der Häresie oder zumindest der Seltsamkeit.

Was gern übersehen wurde: Dass die Lehre von der Rechtfertigung ja eingebettet ist in einen viel größeren biblischen Kontext. Luther fokussiert sich auf einige wenige Verse im Römerbrief, um die herum er alles Weitere aufbaut. Eine solche Fokussierung ist zwar eine legitime Schwerpunktsetzung, aber m.E. nur dann, wenn man weiß, dass es genau das ist.

Weder ist die Lehre von der Rechtfertigung das ganze Evangelium, noch die einzige Art und Weise, wie man biblische Aussagen überhaupt gewichten kann.

Ein mystischer Mensch findet in der Bibel vieles, was ihn oder sie auch ermutigt und bestätigt.

Mose spricht mit Gott, wie ein Mann mit seinem Freund.

Paulus spricht davon, dass er einmal von Gott bis in den dritten Himmel entrückt wurde.

Bei seiner Bekehrung sieht Paulus ein strahlendes Licht und hört eine Stimme: Saul, was verfolgst du mich?

Die komplette Offenbarung des Johannes ist die Niederschrift einer mystischen Begegnung des „Sehers“ Johannes mit dem auferstandenen Christus.

Gott redet im Traum zu Josef im Alten Testament und auch zu Josef, dem Ziehvater Jesu.

Jesaja sieht Gott und ruft aus, was vermutlich jeder ausruft, der IHM schon einmal nah begegnet ist: Weh mir , ich vergehe! Denn ich habe den HERRN gesehen mit meinen Augen….

Paulus schreibt vom neuen Leben mit Jesus als einem Leben „in Christus“.

Jesus sagt zu seinen Jüngern: Wenn er gegangen ist, wird der Heilige Geist sie in alle Wahrheit führen.

Das Wort der Heiligen Schrift muss durch den Heiligen Geist lebendig werden, denn „der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig“.

Selbst Luther, so scharf er sich von den „Schwarmgeistern“ distanziert, strotzt in seinen frühen Schriften nur so von mystischen Formulierungen. Vor allem „Von der Freiheit eines Christenmenschen “ ist eigentlich nur zu verstehen, wenn der „fröhliche Wechsel und Tausch“ zwischen Gott und Mensch als eine reale und erfahrbare Beziehung verstanden wird.

Luther spricht auch davon, dass ein Christ seinem Nächsten zum lebendigen Christus werden soll.

Aus dem allen geht m.E. hervor, dass die evangelische Kirche ihre Beziehung zu den Mystikern in den eigenen Reihen dringend überdenken sollte. Und eigene Wege finden, wir sie Menschen mit entsprechenden Erfahrungen gut integrieren kann. Lange Zeit musste man mit einer mystischen Ader in katholischen Exerzitienhäusern und Klöstern „fremdgehen“, um jemanden zu finden, der einen seelsorgerlich und geistlich begleitet.

Zum Glück ändert sich das langsam.

Mystik ist nicht einfach „katholisch“ und damit für den Protestantismus irrelevant. Es gab und gibt evangelische Mystiker und Mystikerinnen und es wäre schön, wenn diese Erkenntnis sich auch in Kirchenleitungen, an Universitäten und bei der Planung seelsorgerischer Angebote endlich niederschlagen würde.

Ein Kommentar zu „Mystik und evangelisches Bekenntnis

  1. Vielen Dank für diesen Beitrag! Ich verstehe jetzt viel besser, warum die Rechtfertigungslehre eine so hohe Bedeutung in den ev.-luth. Kirchen hat.

    Ich hatte neulich eine Diskussion dazu mit einem ev. Pfarrer (bei Interesse nachzulesen in den Kommentaren zu diesem Blogbeitrag http://schwerglaeubiger.blogspot.com/2020/05/wo-stehe-ich-heute-im-glauben.html ), der diese Lehre auch sehr engagiert gegen meine Kritik verteidigte.

    Was die Mystik angeht, haben neben den Katholiken auch die Orthodoxen so einiges anzubieten. Ich kann Luthers Kritik an den Schwarmgeistern durchaus nachvollziehen, aber heute haben wir eine andere Situation und für mich persönlich ist Mystik auch wichtig.

    Gefällt 1 Person

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