Wieder stand ein Neuanfang an und jedem Anfang wohnt bekanntlich ein Zauber inne. Wohin nach den – wiederum ernüchternden – Erfahrungen in Schweinfurt. Wir schlagen das Amtsblatt auf und durchforsten die Rubrik der freien Pfarrstellen. Zwei stachen mir ins Auge, weil sie beide in Coburg angesiedelt sind. Coburg St. Matthäus und Coburg St. Lukas.
Der aufmerksame Leser, die aufmerksame Leserin erinnert sich. Da war doch schon mal was mit Coburg. Richtig, ich hatte meinen Probedienst im Coburger Land absolviert. So richtig prickelnd fand ich das zwar vier Jahre zuvor nicht, aber im letzten halben Jahr dort ging es mir da ja eigentlich ganz gut. Außerdem kannte ich die meisten Kolleginnen und Kollegen, die auch ganz in Ordnung sind. Kurz, ich dachte: Immerhin weiß ich da ungefähr wie der Hase läuft, der Dekan da ist auch ganz okay, also, probieren wir es.
Es wurde dann Coburg St. Lukas. Ein relativ modernes Kirchen- und Gemeindezentrum, das mir in seiner schlichte Bauweise gut gefiel. Ein schönes Pfarrhaus mit Garten. Freundliche Menschen.
Ich war, jedenfalls dachte ich das, bereit für einen Neuanfang. Ich wollte die Fehler des Probedienstes vermeiden und einfach mal nicht so viel erwarten. Etwas nüchterner an alles herangehen. Nicht erwarten, dass die Gemeindearbeit der Garant für meine persönliche Zufriedenheit ist.
Dazu passte, dass ich gerade das Geigespielen neu entdeckt hatte (als Kind hatte ich Geige gelernt) und dass es in Coburg einen recht guten Chor gibt – beides Möglichkeiten, neben der Gemeindearbeit Menschen kennenzulernen und den Kopf frei zu bekommen.
Es schien ganz gut zu klappen mit der Work-Life-Balance: Ich arbeitete so gut ich konnte und mit recht schönen Erfolgen. Freitags ging ich in den Chor, nahm nebenbei Unterricht bei einem Geiger vom Landestheater und war soweit ganz zufrieden. Und wie es schien auch die Gemeinde mit mir.
Aber nach und nach veränderte sich etwas, was ich zuerst nicht bemerkte. Mein anfänglicher Elan auf der neuen Stelle verließ mich. Ohne dass ich wusste warum, ohne dass ich das ändern konnte.
Im Nachhinein glaube ich, dass ich einfach müde geworden war. Schon wieder ein Wechsel. Mit Vikariat und Spezialvikariat war es mein fünfter Einsatzort innerhalb von nicht einmal zehn Jahren. Jedes Mal Abschied, Umzug, neu Einfinden, jedes Mal andere Menschen, jedes Mal ein anderer Ort, andere Gepflogenheiten, andere Probleme. Hört das denn nie auf? Ich beschloss, diesmal lange zu bleiben. Mich nicht entmutigen zu lassen. Egal was käme.
Eines nachts träumte ich. Ich träumte, ich irre ziellos immer an der B 303 entlang, der Straße, die unter anderem Coburg und Schweinfurt miteinander verbindet. Ich komme nicht zur Ruhe und ich komme auch nicht weg. Ich stoße immer wieder an dieselben Grenzen. Weil ich, egal wo ich hingehe, mich mitnehme. Ich suche und suche. Ich suche mich und ich suche Gott und ich suche einen Zugang zu diesem seltsamen Beruf, der nun schon viele Jahre lang der meine ist, und ich finde nicht, was ich suche. In der Musik gibt es die Bezeichnung „da capo ad infinitum“. Das heißt: Immer wieder von vorne. Und mich beschlich die dunkle Ahnung: Egal, wie oft ich dieses Spiel noch spiele, es ist überall dasselbe. Wenn ich so weitermache, dann sitze ich irgendwann mit 65 alleine in irgendeinem Pfarrhaus, in irgendeiner beliebigen Kirchengemeinde irgendwo, ich komme einfach nicht an. Nirgends.
Was ich brauche, so die schmerzhafte Erkenntnis, ist nicht noch eine Stelle und noch eine Gemeinde und noch ein Neubeginn.
Aber was dann? Ich wusste es wirklich nicht.
Und vieles ging ja auch gut. Zum Beispiel, und auch das war wirklich überall dasselbe, meine Gottesdienste. Die Leute merken, dass ich etwas zu sagen habe. Dass da etwas zum Schwingen kommt, wenn ich predige. Ich merkte es ja selber. Egal wie es mir ging, der Gottesdienst und die Predigt und deren Vorbereitung waren immer der Ort, wo ich merkte, dass sich der Himmel über mir öffnete und dass ich frei war.
Vieles andere „funktionierte“ ja auch. Meine Konfirmanden und ich kamen immer gut zurecht. Taufen , Trauungen, Beerdigungen – alles wo es um den „Kern“ des Glaubens geht, war mit Segen erfüllt. Sollte ich das denn etwa aufgeben? Dazu war ich doch schließlich Pfarrerin geworden.
Aber vieles andere war so ermüdend. Verwaltung. Gremien. Der endlose Hickhack um Alles und Nichts. Das Gefühl, permanent auf dem Präsentierteller zu sitzen.
„In jedem Beruf gibt es Dinge, die dir nicht gefallen werden!“, hörte ich oft. Und das stimmt natürlich. Nur, dass es wenige Berufe gibt, die so tief in die eigene Identität und das eigene Selbstverständnis hineingreifen, wie der Pfarrberuf.
Und dann kam noch etwas hinzu, was mich wirklich schwer traf: Im Juli 2012 verstarb mein Vater und im Januar 2013, nur ein halbes Jahr später, meine Mutter. Mit dem Tod meiner Eltern kam bei mir unheimlich vieles aus Kindheit und Jugend wieder hoch, das ich zusätzlich zur Trauer verarbeiten musste.
Es war mir einfach alles zuviel. Viel zuviel. Auch wenn viele meiner Gemeindeglieder anfangs großes Verständnis zeigten. Aber so eine Sache verarbeitet sich halt nicht innerhalb von ein oder zwei Monaten. Zumal meine Eltern ja um ein halbes Jahr zeitlich versetzt gestorben sind. Kaum hatte ich mich nach dem Tod meines Vaters halbwegs wieder gefangen, schon begann die Odyssee meiner Mutter durch Krankenhäuser und Altersheime. Ich fuhr permanent zwischen Coburg und München hin und her, um Dinge zu regeln.
Irgendwann lässt das Mitgefühl nach und da durfte ich mir dann zum Beispiel von einer treuen Kirchgängerin anhören: „Ich verstehe gar nicht, dass Sie da nicht drüber weg kommen, Sie haben doch einen Glauben!“
Oder: „Ihre Eltern waren ja alt, das ist eben der natürliche Gang der Dinge.“
Von Gott merkte ich in dieser Zeit sehr wenig. Auch wenn ich wusste, dass er da ist. Vielleicht war gerade das das Zeichen Seiner Gegenwart: Ich habe, seit meiner Taufe, niemals auch nur eine Sekunde daran gezweifelt dass er da ist und mich liebt. Gespürt habe ich es oft nicht. Aber egal wie weit ich unten war, ich wusste einfach, dass es Gott gibt.
Auch wenn manches dadurch nicht leichter wurde.