Noch eines wurde mir allerdings sehr klar in diesen letzten zwei Jahren: Den Schatten der eigenen Eltern wird man nicht los.
Meine Eltern waren Jahrgang 1922, bzw. 1933 – und wie damals Kinder erzogen wurden, nämlich häufig unerbittlich hart und mit wenig Empathie schlug sich auch darin nieder, wie ich selbst aufgewachsen bin. Ja, ich habe es in einer Therapie verarbeitet. Ja, ich konnte gut leben damit. Und kann es auch noch.
Es gibt aber Momente, in denen es voll wieder hochkommt. Ich merke es dann, wenn mein Kind mich zur Weißglut treibt. Obwohl es sich einfach nur so benimmt, wie ein Baby oder Kleinkind es eben tut. Ich frage mich dann: Woher kommt dieser lodernde Zorn in mir, der so völlig unverhältnismäßig ist zu dem, was Korbinian wirklich getan hat? Er ist ein Kleinkind. Er tut, was er tut, nicht um mich zu ärgern, sondern um die Welt zu erforschen und seine Fähigkeiten zu erproben. Und trotzdem bin ich regelmäßig kurz davor, total auszurasten, wenn er zum hundertsten Mal an diesem Tag die laufende Spülmaschine ausschaltet, auf den Küchentisch klettert oder den Napf mit Katzenfutter auf die Wohnzimmerteppich leert.
Meistens kocht die Wut in mir dann hoch, wenn ich selber körperlich oder seelisch an Grenzen bin. Mit jetzt 47 Jahren stecke ich nun mal schlaflose Nächte nicht so leicht weg, wie eine 25jährige Mama. Und dass ich nach meiner Krebserkrankung einen Schwerbehindertenausweis mit GdB 80 mein eigen nenne, ist auch nicht „einfach so“ passiert, es sagt etwas über meine Belastbarkeit aus.
Manchmal reichen dann Kleinigkeiten und ich werde, zumindest innerlich, und, öfter als mir lieb ist, auch äußerlich zur Furie.
Und wenn ich mir zuhöre, höre ich zu meinem Entsetzen aus meinem Mund genau die Sätze, mit denen ich selber aufgewachsen bin.
Es ist mir bewusst. Ich arbeite daran, dass mir das nicht ganz so oft passiert. Ich versuche, selber genügend Schlaf und Pausen zu bekommen, dass ich nicht so gereizt bin.
Aber es passiert mir.
Ich trug, ohne es zu bemerken, Jahrzehnte lang meine Mutter im Unterbewusstsein mit mir herum. Nun verlangt sie, mein Kind mit zu erziehen.
Vor einigen Nächten träumte ich sogar von ihr. Korbinian, meine Mutter und ich waren zuzsammen in einem Raum und meine Mutter sagte: „Außer uns kümmert sich ja niemand!“ – und mir kam das im Traum völlig normal vor. Christoph war überhaupt nicht auf dem Schirm.
Dann wachte ich auf und begriff: Meine internalisierte Mutter pfuscht mir in meine Beziehung zu Korbinian und auch zu Christoph hinein. Für mich zeigt sich darin, wie unglaublich hartnäckig sich unsere Eltern, in meinem Fall meine Mutter, in unsererm Unterbewusstsein festkrallen.
Was man dagegen machen kann ist, denke ich, in erster Linie, es wahrzunehmen und bewusst gegenzusteuern. Nein, ich werde NICHT die Sätze sagen, die mich als Kind kleingemacht haben. Nein, ich werde NICHT mein Kind beschimpfen, und wenn doch, werde ich mich entschuldigen bei ihm. DOCH, der Klaps HAT mir geschadet und auch meinem Kind wird es schaden, wenn ich ihn schlage. Ich tue es NICHT; und sollte mir doch mal die Hand ausrutschen, werde ich mich entschuldigen und wenn es öfter passiert, werde ich mir Hilfe suchen.
Diese Konfrontation mit dem „Mutter-Schatten“ ist manchmal harte Arbeit, aber ich glaube, ich bin auf einem ganz guten Weg.
Letzte Weihnachten waren wir im Gottesdienst in St. Augustin und vorne stand die Krippe mit dem lebensgroßen Jesuskind. Nach dem Gottesdienst ging ich nach vorne (Christoph und Korbi waren schon draußen). Das Jesuskind lächelte mich mit offenen Armen an. Und shcien zu sagen: „Ich lebe in jedem Kind, auch in Korbi. Würdest du mich anschreien, wenn ich etwas falsch mache?“
Ich versprach, fortan mein eigenes Kind so anzuschauen und zu behandeln, als wäre es das Jesuskind persönlich. Es gelingt mir nicht immer. Aber oft.