Im Jahre 2019 sind 197.207 Menschen aus der evangelischen Kirche in Deutschland ausgetreten. Die Summe von Taufen, Konversionen zur evangelischen Kirche und Wiedereintritten betrug 202.450. Glückwunsch! Also doch nicht so schlimm? Nun, wir haben die Sterbefälle noch nicht bedacht. Registriert wurden 257.382 Sterbefälle bei evangelischen Kirchenmitgliedern.
Damit stehen 454.589 der Kirchen abhanden gekommene evangelische Christen 202.450 neu hinzugekommenen gegenüber. Es bleibt bei einem Minus von 252.139.
Diese Zahlen muss man sich nicht im Detail merken, um sie als evangelischer Kirchenmensch alarmierend zu finden. Natürlich leidet die Kirche wie alle anderen Institutionen und unser Land als Ganzes am demografischen Wandel. Auch wenn niemand mehr austreten würde, würden wir weniger werden.
Eigentlich alarmieren sollten aber die knapp 200000 Austritte. Wenn der Trend 2020 anhält, und alles spricht dafür, gehören im Jahr 2021 erstmals weniger als 50 Prozent der Menschen in Deutschland einer der beiden großen christlichen Kirche an. Tendenz fallend.
Es ist Zeit, den Fakten ins Auge zu sehen: Christen sind dabei, in Deutschland zu einer Minderheit zu werden.
Nun ist dieser Trend im Grunde schon lange bekannt. Vieles wurde unternommen, um ihm entgegen zu wirken.
Vollmundig erklärte die EKD in ihrer Denkschrift „Kirche der Freiheit“ (2006), man wolle nun „gegen den Trend wachsen“. Wir haben 2017 mit vielen netten Aktionen und Festgottesdiensten 500 Jahre Reformation gefeiert. Regelmäßig stellen sich Vertreter*innen der Kirchenleitung vor Kameras, strahlen dabei wie die Honigkuchenpferde und verströmen Optimismus – schließlich sei ja alles gar nicht so schlimm.
Man versucht, die Sache schönzureden. Die aus der Kirche ausgetretenen seien ja eigentlich nur wie pubertierende Kinder, sie einfach mal ihren eigenen Weg gehen wollen. Natürlich halten wir die Türen weit offen und wenn sie zurückkommen, dann nehmen wir sie ganz besonders herzlich wieder auf, so las ich neulich das Statement eines ehemaligen Kollegen.
Zum einen finde ich den Vergleich unverschämt. Wer aus der Kirche austritt, ist kein pubertierendes Kind, sonder ein erwachsener Mensch mit einer Biographie und mit Gründen. Wer meinen wir eigentlich, dass wir sind, wenn wir uns solchen Menschen gegenüber großzügig so verhalten wollen, mit Mama oder Papa eines 16jährigen auf Selbsterfahrungstrip?
Zum anderen können wir die Türen so weit offenhalten, wie wir wollen – die Zahlen sprechen einfach nicht dafür, dass die Mehrzahl derer, die geht, auch irgendwann wieder kommt.
Warum treten Menschen aus der Kirche aus? Viele Gründe werden genannt. Finanzielle Gründe, persönliche Enttäuschung, Unzufriedenheit mit diesem oder jenem Missstand.
Gründe, warum es sich lohnt in der Kirche zu bleiben, werden ins Feld geführt. Die diakonische Dimension von Kirche: Mit Ihren Kirchensteuern unterstützen Sie jede Menge soziale Projekte, Kindergärten, Altenheime, Krankenhäuser. Wir sind der Ansprechpartner für gelungene Lebensfeiern (Taufe, Trauung, Konfirmation, Bestattung). Wir bieten Gemeinschaft für Menschen aller Generationen. Und dergleichen mehr.
Das alles ist ja nicht schlecht. Was aber die Austrittsgründe betrifft, glaube ich kaum, dass solche gut gemeinten Argumente irgendwie verfangen. Ich muss nicht in der Kirche sein, um mich sozial zu engagieren – so lobenswert der Einsatz der Kirche hier auch sein mag. Gemeinschaft finde ich auch in der Familie, am Stammtisch, im Fußballverein oder sonstwo. Und die klassischen Lebensfeiern? Dafür kann ich mir auch eine freie Rednerin buchen, statt lebenslang Kirchensteuern für meine künftige Beerdigung zu zahlen.
Im Grunde gibt es nur einen einzigen wirklich triftigen Grund, Mitglied einer der beiden großen Kirchen zu bleiben: Ich kann mich inhaltlich mit dem Glauben identifizieren, der in der Kirche gelebt wird. Den Glauben an den dreieinigen Gott, aus dem heraus ich mit anderen mein Leben gestalten will.
Wenn Menschen aus der Kirche austreten, dann tun sie das, so meine Überzeugung, eben nicht in erster Linie deshalb, weil sie sich mal geärgert haben, weil sie Kirchensteuern zahlen müssen oder anderen Gründen. Diese sind lediglich der Auslöser.
Wir müssen der Tatsache ins Auge schauen, dass sehr viele, die noch Mitglieder der Kirche sind, sich schlicht und einfach nicht mehr mit dem Glauben identifizieren, für den wir stehen.
Umgekehrt ist ein wirklich gläubiger Christ in der Regel ausgesprochen duldsam, was persönliche Kränkungen durch die Kirche, Kirchensteuern oder schlechte Predigten betrifft. Er oder sie bleibt dabei, nicht weil er alles, was die Kirche tut, toll findet. Sondern weil er sich mit dem Kernthema identifizieren kann. Dem Glauben an den dreieinigen Gott und die Relevanz dieses Glaubens für sein Leben.
Wenn wir dem Trend wirklich entgegen wirken wollen, dann muss wieder plausibel werden, woran wir eigentlich glauben und warum das Relevanz für das Leben unserer Mitglieder hat. Wir müssen sprachfähig werden in Glaubensfragen.
Und wir müssen uns beherzt daran machen, Kirche in Zeiten des Mitgliederschwundes wirklich neu zu denken, von der kleineren Zahl her, mit weniger zur Verfügung stehenden Ressourcen. Wir müssen Visionen entwickeln für eine Kirche, die wieder Salz der Erde oder Sauerteig in der Gesellschaft sein will. Salz und Sauerteig sind Vergleiche, die Jesus gebraucht, um zu beschreiben, was seine Jünger und was das Reich Gottes sind. Das ist etwas völlig anderes als unser Traum von einer „Volkskirche“, die irgendwie „alle“ erreichen will, und doch in Wirklichkeit keinen erreicht.
Um diese Themen soll es im weiteren Verlauf gehen. Woran glauben wir und wie werden wir sprachfähig in Bezug auf unseren Glauben, so dass es Menschen von heute wirklich erreicht? Und was könnten Visionen für eine Kirche sein, die mehr und mehr ohne die lange Jahre gewohnten personellen und finanziellen Ressourcen auskommen muss?
Martin Luther formulierte einst das Wort von der „ecclesia semper reformanda“. Kirche muss sich immer wieder erneuern, indem sie zu den Wurzeln zurückkehrt. Beherzigt wird das oft zu wenig. Erst nach und nach wird wohl klar, dass wir von vielem Abschied nehmen müssen, wenn wir weiter auf dem Weg bleiben wollen. Anders gesagt: Wer will, dass die Kirche bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt.
Luther war’s nicht, für ihn hat Christus die Kirche nach göttlichem Ratschluß reformiert. Der Satz ist calvinistisch oder gar barthianisch.
Aber das hier lohnt zu lesen: http://aufbruch-gemeinde.de/wordpress/?p=1303
Und: wahre Liebe liebt nicht „weil“, sondern „obwohl“. So liebt der Christ die Kirche, so liebt Gott die Welt. 😉
Mich wundert, wieso in Zeiten, wo andere sich auf das konzentrieren, was sie vom Rest der Welt unterscheidet, die Kirche – jedenfalls die evangelische – sich bemüht, möglichst nichts zu haben und zu bieten, was sonst keiner hat. Aber vielleicht hat sie genau das schon verloren, irgendwo in den Schreibtischen ihrer Ämter?
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Auch hier noch einmal etwas zum vermeintlichen Lutherzitat.
https://en.m.wikipedia.org/wiki/Ecclesia_semper_reformanda_est
Alles andere: ja, bitte, ich lese mit Interesse.
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Euch beiden Danke für die Richtigstellung. Das wird beim Endmanuskript raus genommen.
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„Wer will, dass die Kirche bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt.“
Wenn das nur endlich Eingang in die Köpfe derer fände, die die Institution zementiert halten wollen …
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Liebe Christiane,wenn es so einfach wäre mit der Bibel! Der Spagat besteht darin, den Fundis einen historisch-kritischen Zugang zur Schrift zu bahnen (ernst nehmen, aber nicht wörtlich; ich empfehle hier Worthaus und den großartigen Sigi Zimmer) und den historisch-kritischen die Mystik in der Schrift und zwischen ihren Zeilen zu erschließen. Das Modell des mehrfachen Schriftsinns, das Luther zugunsten des Literalsinns aufgegeben hat, braucht Erneuerung: tiefenpsychologisch, sozialgeschichtlich, „von unten“, mystisch, jüdisch-kabalistisch (Weinreb!) etc. Der pure Literalsinn ist letztlich rationalistisch und gebiert Fundamentalismus ebenso wie historisch-kritische Seziererei. Du gehst in Deinem Beitrag auch wenig darauf ein, wie man mit den dunklen Seiten und Gottesbildern der Bibel umgehen kann oder was zur Heilung solcher Bilder beiträgt. Was bedeutet es, wenn Eugen pBiser das Christentum als therapeutische Religion gegen die Angst bezeichnet und zur Bibel sagt: „Manchmal muss der Geist der Schrift den Buchstaben heilen“… ? Soviel fürs erste! Liebe Grüße, AndreasVon meinem Samsung Galaxy Smartphone gesendet.
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Lieber Andreas ist mir alles klar. Passt aber nicht in einen kurzen Artikel, müssten dann mehrere Kapitel werden. Außerdem ist mir noch nicht wirklich klar, für wen ich eigentlich schreibe, ich bleibe dran.
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