Es ist Fastenzeit und heuer faste ich die sozialen Medien. Die entsprechenden Apps auf meinen mobilen Endgeräten habe ich vorsorglich deaktiviert. Und es ist still, sehr still. Ich fühle mich derzeit weder genötigt auf den Empörungswellen meiner linksgrünversifften Blase zu surfen, noch auf sonstige Aufreger zu reagieren. Ich genieße den Luxus, einfach mal keine Meinung zu äußern.
Wann hatte ich das zuletzt, keine Meinung?
Ich meine mich zu erinnern, dass keine Meinung zu haben, nicht sofort auf alles zu reagieren, früher für mich irgendwie „normal“ war. Damals, in den seligen Zeiten vor Social Media. Was weiß ich denn eigentlich wirklich über Klimakatastrophe, Atomstrom, Migration, Militär und sämtliche Facetten von LGBTQ+-Themen? Warum muss jeder und jede auf all diesen Gebieten Expertin oder Experte sein?
Früher. Ach früher.
Ich bin inzwischen eine alte weiße Frau, ich erinnere mich an früher.
Wenn ich mir früher eine Meinung zu einem Thema bilden wollte, ging ich es eher langsam an. Der Weg führte mich in die Stadtbücherei. Dort blätterte ich in Karteikatalogen und schrieb mir Notizen. Ich lieh mir zwei bis drei Bücher aus, die ich zuhause studierte, und wenn sie das Gesuchte nicht vorrätig hatten, führte mein zweiter Weg in den Buchladen. Ich las mich ein. Erwog pro und contra. Versuchte zu verstehen, worum es eigentlich geht. Manchmal redete ich sogar mit Menschen. Von Angesicht zu Angesicht. Wahnsinn.
Heute öffne ich Facebook, Threads, Insta – und es springt mich irgendetwas an, auf das ich reagiere. Spontan. Aus dem Bauch heraus. Oft ahnungslos. Aber möglichst fundiert. Keine Meinung zu haben kann sich doch kaum noch jemand leisten! Und ich mache mit, wie so viele.
Der Platz zwischen den Stühlen war noch nie besonders bequem oder begehrt, doch meistens war es meiner, ich setzte mich im Schneidersitz auf den Boden und lauschte den erregten Debatten, fühlte mich selten bemüßigt, auf einem der angebotenen Stühle dauerhaft Platz zu nehmen.
Heute versucht jeder jeden (oder jede*e jede*) auf irgendeinen Stuhl zu zerren. Wer zu lange nachdenkt, zu lange schweigt, zu lange braucht sich eine Meinung zu bilden, der wird im besten Fall ignoriert und ansonsten als inkompetent wahrgenommen.
Ich trete ein für das Recht einfach mal die Klappe zu halten, wenn man keine Ahnung hat. Zwischen den Stühlen Platz zu nehmen. Und dort einfach mal sitzen zu bleiben.
Lange.
Vielleicht deinstalliere ich die entsprechenden Apps einfach dauerhaft.

Manchmal hatte ich eine Meinung und holte mir im Nachhinein mehr Informationen aus der Bibliothek (was auch zur Meinungsänderung führte).
Ich antworte auf bestimmt Fragen heute häufiger: „Davon habe ich keine Ahnung.“ „Aber du mußt doch eine Meinung dazu haben?“ „Wo steht denn das? Wo ist denn das festgelegt?“
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