Werdet Vorübergehende

Ende letzten Monats starb ein Mensch, der in meinem Leben eine wichtige Rolle, vielleicht eine Schlüsselrolle gespielt hat. Wer er war, dazu möchte ich hier nichts schreiben. Aber darüber, was dieser Tod mit mir gemacht hat.

Ich habe schon mehrere Tode erlebt, schon mehrmals getrauert. Um Freunde. Um meine Eltern. Diesmal war es anders. Radikaler. Tiefer. Erschütternder.

Und auch ein Weckruf.

Was machst du da mit deinem Leben?

Fünfzig bin ich im Mai geworden, habe dabei das Gefühl, dass alles immer schneller geht. Eh ich es mich versehe, sind schon wieder zwei Drittel eines Jahres vorbei. Frühling, Sommer, das Arbeitsjahr, der Urlaub. Schon werden die Tage wieder deutlich kürzer, schon bald ist wieder Herbst, beginnt ein neues Schuljahr, kurz drauf ist wieder Weihnachten, und so fort, und so fort.

Mancher meint sicher, dass ich mit 50 doch noch zu jung bin um so zu empfinden. Mag schon sein. Aber ehrlich gesagt: Das ging bei mir schon vor zehn Jahren los. Dieses Gefühl, dass das Rad sich immer schneller dreht. Und sind wir mal ehrlich: Mit 50 ist nicht Halbzeit. Mit 50 sind zwei Drittel vorbei. Alles über 75 empfinde ich als Dreingabe, mit viel Glück ohne Demenz und ohne schwere Krankheiten.

Am Grab des Freundes stehen, tieftraurig, da hinunter schauen auf einen Sarg, in dem einer liegt, der so lebendig war.

Und das Grab war voll und nicht leer.

Und zugleich noch intensiver als bei jedem anderen Tod bisher das Gefühl: Ich will leben. Wirklich und ehrlich und wesentlich.

Mit allem, was mein Leben ausmacht.

Und nicht am Wesentlichen vorbei.

„Werdet Vorübergehende“ – dieses kürzeste aller Jesus zugesprochenen Worte steht nicht in der Bibel, sondern im Thomasevangelium. In der Traueransprache spielte es eine wichtige Rolle. Dem Verstorbenen war das wichtig. Bei allem Genießen, bei allem Tun, bei aller Leidenschaft für das Leben, bei aller Freude die tiefe Gewissheit: Wir sind Vorübergehende. Auf der Durchreise. Noch nicht angekommen. Und es geht immer weiter.

Schon oft habe ich getrauert.

Aber dieser Tod hat mich aufgerüttelt.

Zum Leben.

Das alles, was so kostbar ist, neu zu schätzen.

Und gleichzeitig nirgends kleben zu bleiben.

Prioritäten neu zu setzen.

Ich hoffe, es wird mir gelingen.

Das Leben ist so verdammt kurz.

3 Kommentare zu „Werdet Vorübergehende

  1. „Wir haben hier keine bleibende Statt“, heißt es im Hebräerbrief.
    Ja, der große Schritt ist eher bei 40 als bei 50. Die Krisenkrankheit Herzinfarkt bekommt man meiner Beobachtung nach auch eher in den 40ern als in den 50ern – dafür fängt dann das Zittern vor dem Damoklesschwert des Alters an, den Tumoren im Atem- und Verdauungsbereich. So bekam ich neulich, 14 Tage nach dem Wiegenfest, auch die erste Post mit Einladung zur Vorsorge. Und die Gelenke krachen immer lauter – die Zähne auch manchmal.
    Letztes Jahr erfuhr ich, daß einer aus unserem Abiturjahrgang nicht mehr lebt. Vor ziemlich genau einem Jahr habe ich einen beerdigt, der so alt war wie ich, bis auf wenige Wochen, und an seinem 49. Geburtstag morgens tot aus dem Bett gefallen ist. Dieses Frühjahr einen, der an meinem Geburtstag geboren war, aber er war erst 33.
    Meine Mädels sind älter als euer Sohn; die Jüngste wird 11 und kommt ins Collège. Aber der Gedanke ist schon da, nicht jeden Tag aber immer wieder, wie weit werde ich sie begleiten können? Mein Vater starb mit 72 und war die letzten drei Jahre damit beschäftigt, nicht zu sterben. Weiß ich, wenn ich aus dem Haus gehe, wenn ich ins Auto steige, ob ich wieder heimkomme? Letztlich kann ich nur hoffen.

    Gefällt 1 Person

      1. Sinnvoll… nun ja. Weiß man mit 20 sicherer, daß man die Enkel noch erleben wird? Wir sind uns vielleicht unserer Endlichkeit bewußter als vor 30 Jahren, du wohl noch einmal mehr durch deine Lebens-Erfahrung, und vielleicht sind wir es auch noch einmal durch unseren Beruf, der uns immer wieder auch vor die Klippe des Todes stellt, an die Seite von Menschen, die einem geliebten Menschen nachblicken.
        Ich weiß, daß „aber er ist nun mal da“ nicht so gemeint ist, wie es verstanden werden könnte: ihr liebt ihn heiß und innig und würdet ihn nicht freiwillig wieder hergeben.

        Like

Hinterlasse einen Kommentar